Diese Woche sprach ich mit einer Künstlerin, die demnächst einen Online-Kurs auf der Kreasphären-Plattform anbieten wird. Sie erzählte mir von ihrem kreativen Prozess und dass es für sie wie Flucht vor der Rea­lität sei, wenn sie ins Malen abtauche. Das ließ mich nicht los und jetzt frage ich mich: Ist Malen Realitätflucht

Klar: wenn wir uns Pinsel and Farben zurechtlegen und anfangen, ein Stück Papier oder eine Leinwand vom jungfräulichen Weiß zu befreien, und wenn wir genug Vertrauen in unseren Umgang mit den Materia­lien haben und uns dem Prozess hingeben, dann kann es vorkommen, das wir komplett die Zeit vergessen. Alles Alltägliche, der Job, der Haus­halt, Beziehungen, alles, was uns vielleicht beschäftigt oder gar Sor­gen macht, wird in diesem Flow völlig bedeutungslos. Wir sind ganz im Hier und Jetzt. 

Aber macht das Malen zur Realitätsflucht? 

Das würde suggerieren, dass der Alltag, dass das, was so gängig als alltäglich angeschaut wird – Job, Haus­halt, Beziehungen, Gesundheit, Finanzen -, die Realität sei und Malen sei was anderes. 

Da regt sich in mir großer Wider­stand. (Den Widerspruch hatte ich sofort auf den Lippen, als sie mir sagte, Malen sei für sie Realitätsflucht!) Denn Malen ist etwas sehr Reales. Was jetzt folgt, gilt für jede Form des kreativen Schaffens. Im Prozess des Malens, so er unge­stört abläuft, drücken wir aus, wie wir die Welt wahrnehmen. Malen geschieht aus einem heiligen Ort in uns heraus: aus unserer Seele, aus unserem Körper. Wir wählen die Farben, wir führen die Bewegungen aus. Wenn du beim Malen ganz bei dir bist und die Impulse frei fließen können, erschaffst du etwas zuvor nie Dagewesenes, holst es aus dem Meer aller Möglichkeiten ans Tageslicht, sodass du sehen kannst, was bisher nur in deiner Vorstellungswelt lag. Auf einmal ist es hier- sichtbar für dich und für alle Welt. 

Ist Malen also Realitätsflucht? 

Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Sich vor den Fernseher setzen, ist Realitätsflucht. Party machen und sich zudröhnen, ist Realitätsflucht. Shopping bis zum Bankrott ist Realitätsflucht. Einen Job zu machen, der dir sprichwörtlich das Genick bricht und wo du morgens schon mit Widerwillen hingehst, das ist Realitätsflucht. Stundenlang geführt „Meditieren“ und Visionboards gestalten in der Hoffnung auf die Erfüllung deiner Wünsche, das ist ebenfalls Realitätsflucht!

Malen ist gelebte Realität! 

Wenn du an der Leinwand stehst und Flächen und Formen entstehen fast wie von selbst, wenn du strickst, bis die Nadeln glühen, weil du es nicht abwarten kannst, den fertige Muster zu sehen, wenn du das Stück Holz in einen Löffel oder eine Schale verwandelst, dann erzeugst du eine neue Realität, holst Dinge in die Welt, die vorher nicht da waren. Dassel­be gilt für den Aufbau deiner Selbständigkeit. Und wer schon einmal eine Geschichte selbst geschrieben hat, statt sie nur zu lesen, weiß, wie lebendig und real die Charaktere für einen sind, auch wenn sie nichts als Tinte auf dem Papier sind.

Womit du dich in deiner kreativen Aktivität beschäftigst, das lebt in dir, das lebt durch dich, das fließt durch dich hindurch und das schenkt dir so viel Energie, dass du das, was gemeinhin „Realität“ genannt wird – und die wieder und wieder auseinanderzufallen droht – viel besser ertragen und meistern kannst.

Der intensive kreative Prozess bringt aber nicht nur Neues ans Licht, sondern auch Altes! Du bist präsent im jetzigen Moment, spürst deine kreativen Impulse in deinem Körper – und da kann es passieren, dass alte Schmerzen ans Licht kommen, Verletzungen, die du sonst verdrängt hast. Im kreativen Prozess zeigen sie sich dir und du kannst sie liebevoll verabschieden.

Realität ist das Erkennen und die Wahr-Nehmung der eigenen inneren Natur. Dich voll und ganz zu spüren mit allem, was dich ausmacht, das ist Realität! Mit all der Schönheit und den Gaben, mit allem Schmerz und allen Verletzungen, mit all der Fülle in dir und all der Freiheit, damit und darin zu erblühen.

Wie könnte das Malen Realitätsflucht sein? Malen, Schnitzen, Töpfern, Schreiben, ein Business aufbauen, einen Garten anlegen, eine Wohnung einrichten, das alles ist die Offenlegung deiner eigenen Realität. Es erzeugt in dir, da du Körper und Seele dafür benutzt, eine starke Resonanz, die macht, dass du dich glücklich und beseelt fühlst, stark und vertrauensvoll. Ganz nebenbei löst du uralte Prägungen auf, die dir nicht guttun, und erlebst die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle. Deine Kreativität auszuleben, ist erfüllend und macht, dass du dich ganz und gar lebendig fühlst.

Wie könnte das irreal sein? (Davon abgesehen, dass alle „Reali­tät“ sowieso eine Illusion ist. Iren würden noch anfügen: die aus einem Man­gel an Alkohol entsteht.) 

Was ist es, das du als Nächstes erschaffst? Was lässt du sicht- und angreifbar wer­den, das bisher nur in deiner Vorstellungswelt existierte? 

Go for it! Nichts lohnt sich mehr als das. 

Alles Liebe! 

Andrea