Eine Muschel ist eine Muschel ist eine Muschel!

Möchte man so meinen.

Ohne Ende findet man sie am Strand. Da liegen sie, herangespült von Ebbe und Flut, oft unbeachtet, bis ein Kind oder ein etwas größeres Kind sie aufnimmt und sie als Verschönerung in die Außenmauern der Strandburg steckt – oder bis einer sich an einem zerbrochenen Exemplar den Fuß aufschneidet.

Autsch.

Nichts als gewöhnliche Muscheln, Kalkansammelungen, Perlmutt auch, Schalen von Lebewesen, die einmal darin gelebt haben.

Und doch sind sie so viel mehr.

Was jetzt kommt, ist für alteingesessene Skizzenbuchliebhaber absolut nix Neues, also wenn du schon lange Skizzenbücher führst und/oder Urban Sketcher bist, dann geh lieber zeichnen, statt das hier zu lesen, weil das weißt du dann alles schon.

Farbe, Linien und Form

Farbe: cremeweiß und irisierend schimmernd auf der Innenseite, blaugrau, wenn aus dem Wasser geholt, und trocken dann auf einmal ganz weiß, Neapelgelb, ein blasses Fliederfarben, Ultramarin, Indigo und Paynesgrey … schon hat die Malerin in mir die Übersetzung in die Farbtöne des Farbkastens angefertigt, noch ehe ich einen Strich aufs Papier gemacht habe.

Linien: Strahlen von einem Zentrum aus, gewellt und völlig gleichmäßig, Bögen von einer Seite auf die andere, nach außen hin weiter um sich greifend als noch am Ausgangspunkt des Wachstums. Aha! Der Blob! Zack ist im Geiste und mit der Hand die Umsetzung geschehen, wie die Muschel aufs Blatt zu bannen wäre.

Formen: eine zur Ferse hin spitz zulaufende Schuhsohle, ein verbogener Löffel, ein Herz, naja, nicht ganz. Das Hirn sucht nach Ähnlichkeiten, baut Analogien, übersetzt in Bekanntes.

Die Muschel hört für eine Weile auf, Muschel zu sein. Genau genommen ist „Muschel“ ja nur ein Begriff.

Sofort sind neue Begriffe da im Kopf. „Cockels“ für Herzmuscheln und „Mussels“ für Miesmuscheln und zack! stimmt der Kopf das Lied der Fischverkäuferin Molly Malone an, die in Irland jedes Kind kennt und die – in Bronze gegossen – mit ihrem Wagen damals noch an der Ecke zur Grafton Street stand, als ich die Stadt Dublin einmal besucht habe vor vielen Jahren.

Alive, alive, oh!

Das Leben setzt sich fort

Im Ferienhaus betrachtete ich die Muscheln ganz genau, entdeckte dabei die Makro-Fähigkeiten meiner iPhone-Kamera – und bezaubernde Linien, die die Kalkskelette von Seepocken auf der einen Außenschale einer Miesmuschel hinterlassen haben. Faszinierend. Noch wartet das Sketchbook darauf, diese Faszination aufzunehmen.

Die Miesmuschelschale hat schon Eingang dort hinein gefunden, und zwar in den verschiedensten Varianten. Denn das ist der Spaß, wenn du mit einem Sketchbook, einem Skizzenbuch unterwegs bist: die Exploration, das Experiment, das Spiel mit den Formen, die dich interessieren und begeistern.

Vielfalt im Experiment

Zuerst die Form und die Farben und die Linien, annähernd gezeichnet, wie ich das Stück vor mir auf dem Tisch sehe. Ganz bald hat sich das zögerliche Zeichnen, das Herantasten an die Form umgewandelt in das Erinnern an eine Bewegung, das Führen des Stiftes von rechts nach links in immer weiter ausgreifenden Bögen, an ein Gunkelmuster, das ich im ersten Gunkelkurs vorstelle: der Blob! (So habe ich die Figur dort genannt.)

Schon gibt es kein Halten mehr. Muschel nach Muschel formt sich aus dem Blob, während am Fernseher eine Dokumentation läuft über die Tempel der Maya in Mesoamerika.

(Noch so ein Nebeneffekt des Zeichnens: die Sinneskanäle weiten sich, deine Wahrnehmung geht voll auf Empfang, du weißt später noch genau, was sich zugetragen hat, was um dich herum los war, als du das gezeichnet hast, was du da gerade zeichnest.)

Farbe kommt drauf. Du weißt ganz genau, welche es sein soll. Und wo du sie platzierst. Sicher und gezielt.

Yes!

Weil es so viel Spaß macht, blobst du die Muschel nochmal und nochmal und fügst den Text hinzu aus dem Lied über Molly Malone. Ein weiteres Gestaltungselement hat Eingang gefunden ins Sketchbook.

Gouache statt Aquarell. Die Formen malen in verschiedenen Farben, sich überlagern lassen und die Linien danach hineinblobben. Und nochmal der Text, dieses Mal mit Buntstiften, was ein Ton- in Ton-Bild gibt, das überrascht.

Am Strand dann nochmal die Muscheln, dieses Mal sind sie Schablone und du malst dann einfach aus, was du da findest.

Und schließlich das Ganze noch einmal mit Kugelschreiber – ein Zeichengerät, das erstaunlich gut für Schattierungen geeignet ist und fürs Kritzeln natürlich.

Die Welt im Sketchbook neu erleben

Es ist so wahr, was sie alle sagen, die schon seit vielen Jahren mit Skizzenbüchern unterwegs sind: du erlebst deine Umgebung komplett anders, wenn du sie zeichnest.

Du schaust die Gegenstände anders an.
Du nimmst viel mehr von ihnen wahr. Ich sage nur: Farben, Formen, Linien.
Du gehst eine ganz andere Beziehung zu ihnen ein, wenn du sie mit den Augen eines Zeichners betrachtest als „nur“ mit den Augen des Spaziergängers.
Du nimmst die Welt um dich herum völlig anders wahr, weil sich dir, während du zeichnest, alles andere, was gerade um dich herum da ist, intensiv einprägt.

Deshalb schwören Urban Sketcher so darauf, vor Ort zu zeichnen: weil alles, was an diesem Ort gerade los ist, in deine Zeichnung einfließt, weil es in deinem Gedächtnis viel präsenter ist.

Ein Foto ist schnell geschossen.
Und das, was da war, genauso schnell vergessen.

Eine Skizze, und wenn du dich nur zehn Minuten damit beschäftigt hast, beinhaltet die ganze Welt deiner Wahrnehmung!

Deshalb möchte ich dir heute zurufen:
Zeichne.
Zeichne alles.
Und zeichne vor Ort.

Denn eine Muschel ist mehr als nur eine Muschel!

Andrea vom Atelier am Rain

Ein paar Tipps

Falls du es dir allein nicht zutraust, habe ich ein paar Tipps für dich: