Meine Heldenreise

Teil 1: Von innen wirkt jedes Hamsterrad wie eine Karriereleiter

Bevor wir uns virtuell über diese Homepage und diesen Newsletter kennengelernt haben, hatte ich einmal ein komplett anderes Leben. Ich war nicht immer Autorin und Künstlerin. Ich arbeitete als Diplom-Bibliothekarin an wissenschaftlichen Bibliotheken (öffentlicher Dienst) – und konnte nicht malen!
Ja, du hast richtig gelesen. Ich konnte nicht malen. Jedenfalls glaubte ich das.
Wie das kam?
Das erfährst du hier und in den folgenden Ausgaben dieses Newsletters.

2005 ging für mich ein Traum in Erfüllung: Ich hatte mich auf eine Leitungsposition in Kiel beworben und war angenommen worden. Leben am Meer! Genau darauf hatte ich immer hingearbeitet. Kiel sollte es werden, die Stadt, die ich über meine Schwester im Jahr zuvor kennengelernt hatte und wo ich sogar bereits Leute kannte. Das erleichterte mir den Schritt, sozial quasi komplett von vorn anzufangen. Also ließ ich Frankfurt und meine Freunde und befreundeten Kolleginnen zurück und zog an die Ostsee. Eine Partner-Bindung hatte ich damals nicht, und das sollte auch in Kiel so bleiben.

Voller Euphorie fing ich den neuen Job an. Ich bemerkte schnell, dass ich mit meinem Wissen, das ich mir in den 10 Jahren davor in Frankfurt angeeignet hatte, in dieser Bibliothek viel würde bewegen können. Denn das erachtete ich – und darin hatte ich die volle Unterstützung der Leitung – als dringend notwendig. Dort verlangten Kolleginnen immer noch nach Katalogzetteln, obwohl die Online-Kataloge längst etabliert waren. Mein Verständnis dafür war höchst gering. Überhaupt kam mir die Arbeitsweise veraltet vor. In meinen (leistungsorientierten) Augen machten es sich da etliche sehr einfach, hielten aus Bequemlichkeit an Althergebrachtem fest, was – wie ich fand – im Interesse der Bibliotheksbenutzer schleunigst abgestellt gehörte. Dies sah ich als meine Aufgabe an.

Privat ließ sich das Leben in Kiel überraschend gut an. Ich stieg in die Doppelkopfrunde ein, die meine Schwester gegründet hatte und die noch bestand, fand Kolleginnen, mit denen mich persönlich viel verband, das soziale Umfeld wuchs und mit ihnen zusammen erkundete ich Stadt und Land an der Ostsee. Das Fahrrad wurde mein täglicher Begleiter. Ich begann, die Stadt zu lieben.

Ich ging auch wieder in einen Malkurs. Und verließ ihn wieder. Die ersten zwei, drei Übungen waren okay, ich war zufrieden, doch dann kam der Punkt, an dem mein Ergebnis nicht mit dem übereinstimmte, was im Kurs gefordert war, und ich strich die Segel. Diese Erfahrung hatte ich zuvor in Frankfurt wieder und wieder gemacht. In mir wuchs die Erkenntnis: Ich kann nicht malen.

Der Job begann, mich mehr und mehr zu fordern. Was ich mir vorgestellt hatte, die Abteilung „auf Vordermann“ zu bringen, erwies sich als aussichtsloses Unterfangen. Ich hatte eine Kollegin auf ihrem Posten beerbt, die diesen 10 Jahre bekleidet hatte und insgesamt 40 Jahre lang – ihr gesamtes Berufsleben – in dieser Bibliothek gearbeitet hatte. Meine Mitarbeiterinnen hatten ihre „Abteilungsmama“ verloren. Da hatte ich mit Ansprüchen an mich zu tun, die ich niemals erfüllen konnte. Umgekehrt waren meine Mitarbeiterinnen nicht in der Lage, meine Ansprüche zu erfüllen. Da halfen auch keine Fortbildungen zur Mitarbeiterführung.

Wie im Malen erbrachte auch meine Arbeit ein Ergebnis, das nicht mit dem Bild übereinstimmte, das ich zu erreichen wünschte. Noch dazu stimmte das Bild, das ich als Abteilungsleiterin im Laufe der Zeit abgab, nicht mit dem überein, das ich von mir selbst hatte. Ich hatte meine Rolle ganz anders ausfüllen wollen. Also arbeitete ich noch härter, probierte noch mehr, versuchte, meine Mitarbeiterinnen in Fortbildungen zu drängen, die sie nicht wollten. Es war zum Verrücktwerden. Diese Leute mussten doch einsehen, dass ihre Arbeitsweise keine Zukunft hatte!

Mein soziales Umfeld war für mich da. Die Doppelkopfrunde schaffte es, mich wöchentlich abzulenken. Meine befreundeten Kolleginnen teilten mein „Leid“. Sie sahen die Schwierigkeiten auch, doch steckten sie in denselben oder ähnlichen Konflikten. Wir diskutierten tage- und nächtelang, schlugen uns die Samstagabende mit viel Wein und allerhand aberwitzigen und abenteuerlichen Lösungsvorschlägen um die Ohren (mit nicht ganz ernst gemeinten Plänen, die mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren gewesen wären) – und drehten uns doch nur im Kreis.

Vor allem ich drehte mich im Kreis. Und weil das Kreisedrehen anstrengend ist, ließ ich andere Tätigkeiten fallen. Ich hörte auf zu stricken, lag abends platt und müde vorm Fernseher, konnte mich allenfalls am Wochenende zu einer Radtour aufraffen. Malsachen – ich war für sämtliche Techniken ausgestattet – schlummerten in den Regalen, die Stoffe fürs Quilten hatte ich schon abgegeben, meine Gitarre verschenkt.

Trotz der Erschöpfung, die bereits an meiner Tür pochte, raffte ich mich 2009 auf, in einen Schreibkurs zu gehen, um den ich schon zwei Jahre lang herumgeschlichen war. Ich gab dem wenig Hoffnung, dachte, das würde wahrscheinlich genauso enden wie die Malkurse.

Doch es kam anders. Was ich in den ersten Stunden „Mit Worten Bilder malen“ bei Anette Schwohl in der Kunsthalle lernte, entfachte in mir ein neues Feuer. Von da an stürzte ich mich ins fiktive Schreiben, konnte es kaum abwarten, nach der Arbeit nach Hause an meine Texte zu kommen. Das Feedback der anderen Teilnehmer*innen war unglaublich. Es war, als hätte jener erste Text über Roisín O’Neill einen Staudamm in mir zum Einstürzen gebracht. Worte sprudelten und wollten nicht enden … und gleich in diesem Jahr gewann ich in einem Schreibwettbewerb mit meinem Kurzkrimi „Death on disorder“ einen Platz in einer Anthologie.

Ich war vollkommen überwältigt! Wer hätte das gedacht, dass das in mir steckt? Ich wähnte mich einem weiteren Kindheitstraum ganz nahe: einen Roman schreiben und veröffentlichen. Dieser Erfolg wollte wiederholt sein.

Doch das kreative Feuer erlosch, noch bevor es richtig ins Brennen geraten war.

Teile 2 und 3: Das ist für alle anderen, aber nicht für mich

Der Ruf des Abenteuers

Was waren das für Erlebnisse mit dem Schreiben! Oh, hätte ich geahnt, welches Vergnügen darin lag, sich andere Figuren hineinzuversetzen, ihnen eine Biographie anzudichten, sie Situationen erleben zu lassen, die ich selbst nie würde erleben können, ich hätte das schon viel früher angefangen.

Doch wie mit so vielen Dingen im Leben: sie kommen dann zu dir, wenn sie für dich bestimmt sind, auf die eine oder andere Weise.

Von einem Erlebnis möchte ich dir etwas genauer erzählen. Ich habe es im letzten Newsletter schon kurz erwähnt. Es geht um den Moment, da ich zum allerersten Mal einen Text – meinen selbstgeschriebenen Text – vor anderen vorlesen „musste“. Als ich den Text als Hausaufgabe für den Schreibkurs zu Hause in meiner Wohnung in der Damperhofstraße verfasste, tat sich in mir ein ganzer Kontinent an Welt auf. Ich sah das alles vor mir, was sich da abspielte, und diese eine Szene, um die es da ging, brauchte ich nur noch abzuschreiben.

Nur noch! Pah! Wenn das so einfach wäre. Du willst dem Leser beim Schreiben ja auch ein lebendiges Bild dessen vorführen, was sich da abspielt. Dazu gehören Geräusche, Gerüche, Bilder der Umgebung. Was sieht, hört, riecht und empfindet die Figur? Also schrieb, schrieb, schrieb ich, bis es mir so vorkam, als hätte ich wunde Finger. Und immer noch war die Figur nicht da, wo ich sie haben wollte.

Verdammt, der Text sollte nicht länger als eine Seite lang sein … und in mir, in meiner Vorstellung spielte sich ein Film in Überlänge ab. Ich war im Geiste in Irland, in Glendalough, um genau zu sein, und ich stattete diesen Ort, den ich schon mehrfach besucht hatte, mit all dem aus, was ich für meine Geschichte brauchte, auch wenn der reale Ort ganz anders aussieht. Ich erinnere mich heute noch an meinen glühenden Kopf, als ich all das aufschrieb … und dann wieder las mit dem großen Erstaunen: DAS habe ich geschrieben???

Die Erfahrung war fremdartig, befremdlich auch, fast ein bisschen außerkörperlich, als hätte jemand anders da den Stift geführt. Noch viel stärker empfand ich das so, als ich den Text vor meinen Kurskolleg*innen vortrug. Zuerst glaubte ich, kein Wort über die Lippen zu bringen. Ich hätte nicht vorlesen müssen. Es gab einen Augenblick der Angst, eine Stufe, die zu nehmen mir ganz kurz unmöglich erschien, aber ich beschloss, den Fuß zu heben und die Stufe zu nehmen. Was konnte mir schon passieren? Außer dass ich mich blamierte, aber das war mir in dieser Situation seltsamerweise egal.

Also fing ich an zu lesen mit zittriger Stimme. Etwas in mir trieb die Stimme voran, dass sie fester wurde. Es war ein Anteil, den ich bis dahin nicht kannte. Die ganze Zeit während des Lesens rauschte mir das Blut zwischen den Ohren. Ich höre meine Stimme kaum, nur dieses Rauschen, aber ich las weiter, bis zum Ende, mein Blick war fixiert auf das Blatt in meinen Händen, rundherum nahm ich nichts mehr wahr. Wie Migräne-Aura, alles drumherum verschwamm. Meine Stimme war mir fremd. Es kam mir vor, als säße ich einen Stuhl weiter, neben mir, als hätte die Stimme gar nichts mit mir zu tun.

Nach dem Ende meines Vortrags brauchte ich ein paar Sekunden, bis mein Blick wieder die anderen erfasste. Ich nahm Stille wahr und Augenpaare, die auf mich gerichtet waren. Anette Schwohl, die Dozentin, lächelte mich an, ihr Lächeln wurde breiter und breiter.
„Hast du gemerkt, was gerade passiert ist?“, fragte sie mich.
Ich schüttelte nur den Kopf. Ob ich „nein“ sagen konnte, weiß ich nicht mehr.
„Du hast alle hier in den Bann geschlagen.“
Beifälliges Kopfnicken. Bravo. Wahnsinn. Ich bekam gar nicht genau mit, was die Reaktionen waren, weil in mir immer noch dieser Sturm tobte und in den Ohren das Blut rauschte.

Noch jetzt spüre ich, wie sich diese Situation angefühlt hat.

Die Verweigerung des Rufs

Da hatte sich ein Anteil in mir Raum verschafft, den ich bis dato nicht gekannt hatte. Okay, es hatte schon früher mal Beifall gegeben zu einem Bild, das ich gemalt hatte, von den Eltern hauptsächlich, meine Eltern haben noch heute Bilder aus der Kalligraphie-Zeit von mir an den Wänden hängen (obwohl ich die nach und nach austausche). Nichts lässt sich jedoch mit dieser Erfahrung vergleichen. Weil sie so körperlich war. Weil ich diesen kreativen Sturm bis in die letzte Zelle meines Wesens gespürt hatte.

Etwa zu dieser Zeit las ich ein Buch namens „Die Regenkatze“ von Sarah Kirsch, einer hochdekorierten deutschen Lyrikerin und Poetin, die in ihren letzten Lebensjahren ins Marschland von Schleswig-Holstein gezogen war, wo sie ein einigermaßen zurückgezogenes Leben mit ihren Büchern, Bildern und der Familie führte. „Die Regenkatze“ ist einer von vier Bänden mit ihren Notaten. Ich las das Buch mehrfach und kam zu dem Schluss: So will ich leben! Lesen, schreiben, mit Lektoren schwatzen, lange Spaziergänge durch die Marsch machen, auf dem Sofa liegen, die Muse willkommen heißen … ein vollkommenes Idealbild meiner Vorstellung davon, wie eine Autorin lebt.

Autorin. Ich?
Da war dieser Vorgeschmack, der mir das schmackhaft machte und sogar in eine Nähe rückte, die von der Realität gar nicht mehr so fern war.

Auf den Kurs in der Kunsthalle folgte ein Wochenende in Kühlungsborn, bei dem wir uns mit Textarbeit beschäftigten. Zu diesem Zeitpunkt war die irische Heldin aus meiner Fantasie verschwunden, die Recherchen zu einem historischen Roman aus der Zeit, in der die Wikinger die irische Westküste überfielen, erschien mir viel zu aufwändig. Außerdem wollte ich sowieso zeitgenössische Krimis schreiben, also rückte ich in Kühlungsborn mit solch einem Text an.

Spannende Tage verbrachten wir dort mit unglaublich wertvollen Erkenntnissen. Anette hatte im Einzelgespräch einen Satz für mich, den ich heute noch im Herzen bewege: „Du kannst gut Krimis schreiben!“ Jetzt, da ich hier sitze und dir schreibe, blicke ich auf die Postkarte mit diesem Satz auf meiner Pinnwand. Damit säte sie eine Saat. Ob sie irgendwann aufgeht?

Da Wochenende in Kühlungsborn brauchte mir auch eine neue Bekanntschaft, die mit meiner heute besten Freundin. Wir verstanden uns auf Anhieb. An einen Spaziergang während einer Pause erinnere ich mich gut. Wir wanderten den Strand entlang, es war eiskalt, und sie erzählte mir davon, wie sie von einem Tag auf den anderen aus ihrem Beruf hatte aussteigen müssen, weil sie einen Burnout erlitten hatte. Sie hatte eines Morgens einfach nicht mehr gewusst, wie sie ihr Auto steuern sollte. Zu dem Zeitpunkt war das etwa ein Jahr her gewesen. Es folgten Klinikaufenthalt, Umschulung, Gründung einer PR-Agentur zusammen mit einer Freundin. Endlich habe sie das Leben, das sie sich wünschte, erzählte sie.

Ich versank in tiefer Ehrfurcht. Die Kurse bei Anette hatten mir einen Vorgeschmack verschafft darauf, wie es sein könnte, meiner Kreativität den Raum zu geben, den ich vielleicht gern für sie hätte. Und dann erzählt mir diese Frau da, die ich ob ihrer Präsenz und ihrer Romanidee, ob all dessen, was sie mit ihrem Schreibpartner schon alles erreicht hatte, wie sich so ein kreatives Leben anfühlte. Diese Menschen, die ich dort traf, erschienen mir mit ihren großartigen Leben so jenseits von allem, was ich jemals würde erreichen können. Diese Menschen waren doch alle so viel besser als ich.

Ich wünschte mir so sehr, ein Leben als Autorin zu führen. Bloß wie sollte ich dorthin kommen? Ich hatte eine Wohnung zu bezahlen, eine teure dazu, und musste ab und an was essen. Ich fing an, nach einer kleineren Wohnung zu suchen. Ich verkaufte allerhand Sachen, die ich nicht mehr brauchte. Doch ich blieb in diesem Beruf, der mir so den letzten Zahn zog, weil ich glaubte, irgendwie würde das schon gehen. Ich glaubte, es würde funktionieren, wenn ich hinginge, den Tag absaß, mich fügte und den Kopf einzog. Den Job behalten und parallel was anderes aufbauen.

Und dann, ja dann, abends, wenn der Tag vorbei ist, dann würde ich mich kopfüber und voller Energie in den Kriminalroman stürzen, den ich angefangen hatte zu schreiben.

Düsternmord.

Das Leben hatte mir in dieser Zeit einen Vorgeschmack gegeben auf das, was möglich sein könnte. Doch damit ich da hinkam, stellte es mir zuallererst beide Beine.

Teile 4 und 5: Mir selbst etwas Gutes tun? Wie geht das?

Übertreten der Schwelle

Das Leben stellt einem manchmal Beine. Oder rollt einem comicgrotesk riesige Steinbrocken in den Weg, über die wir stürzen und uns eine blutige Stirn einfangen.

Ich habe die heranrollenden Steine sehr wohl gesehen, damals, in dem Jahr vor dem April 2010. Aber ich dachte: die nehmen einen anderen Weg. Mir geht es gut. Ich muss nur einfach noch mehr leisten. Dann wird das schon.

Nichts wurde. Ich hatte mehr und mehr Mühe, die Stufen zu meiner Wohnung im ersten Stock Altbau hinaufzusteigen nach der Arbeit. Ich fuhr immer seltener mit dem Rad, weil ich die Steigung die Olshausenstraße hinauf nicht mehr bewältigte. Stattdessen schlenderte ich nach Hause, um auch zeitlich mehr Abstand zwischen das Drama an der Arbeit und meinen Ruheort Wohnung zu legen. Die Strategie war zwar schön, und ich erfreute mich im Winter besonders an den Lichterdekos in den Häusern rund um den Schrevenpark. Doch sie kam zu spät. Zuhause angekommen, fiel ich nur noch aufs Sofa und schlief für mindestens eine Stunde.

Mit der verbleibenden Energie wollte ich nach Dienst meinen ersten Roman schreiben. So der Plan. Energie war jedoch keine mehr da. Überhaupt keine.

Ich wusste das und trat trotzdem die Dienstreise nach Leipzig an zum Bibliothekskongress. Es gab viel zu den Themen, die ich künftig in der Bibliothek hätte umsetzen müssen, aber das war nicht der Hauptgrund für mich zu fahren. Ich wollte die Frankfurter Kolleginnen und Kollegen wiedersehen, wollte Verbindungen auffrischen zu einer Zeit, als noch alles gut war. Vielleicht fand sich da ein bisschen Energie.

Den Kongress verpasste ich weitgehend. Was für ein Glück gab es dort Straßenbahnen und Rolltreppen. Sonst, wenn ich zu Bibliothekartagen fuhr, stromerte ich durch die Straßen und erkundete die Städte. Ich war in Freiburg, Erfurt, Augsburg, Dresden. Leipzig hätte mir gefallen. Da bin ich sicher. Aber mir fehlte die Kraft. Vom Festabend in der Moritzbastei floh ich frühzeitig, weil mir der Lärm und die vielen Menschen das letzte bisschen Energie aussaugten. (Da wusste ich noch nicht, wie sehr ich mir selbst damit schadete, solchen Massenaufläufen beizuwohnen.)

Ich war so froh, wieder in Kiel zu sein. Danach hatte ich eine Woche Urlaub, Ostern, und dann eine Woche Arbeit. Ab Donnerstag quälten mich Kopfschmerzen, die am Wochenende zwar nachließen, aber ich schwor mir und meine Kolleginnen-Freundinnen redeten auf mich ein: Wenn die übers Wochenende nicht verschwinden, gehst du zum Arzt.

Am Montagmorgen wachte ich mit Kopfschmerzen aus der Hölle auf … und ging zum Arzt. Alles, was ich dort sagen konnte, war: „Ich kann nicht mehr.“ Dann fing ich an zu heulen. Ich höre den Arzt heute noch: „Was ist es? Der Job? Tja, den kann man ja nicht mal eben so aufgeben, ist ja Miete zu bezahlen. Aber warten Sie mal. Ich glaube, ich kann was für Sie tun.“ Er telefonierte eine Weile, während ich da saß wie in einem fremden Körper und hemmungslos heulte. Mehrere Anrufe später drückte er mir einen Zettel in die Hand. „Da gehen Sie am Mittwoch hin.“

Mit der Krankmeldung für eine Woche in der Hand und dem Termin bei einer Psychiaterin (*schluck) verließ ich die Praxis. Ich glaube, ich habe den Rest des Tages geschlafen. Ich weiß es nicht mehr. Ich könnte jetzt nachschauen. Über die Tage nach diesem Tag habe ich lückenlos Tagebuch geführt. Es ist mir auch so noch präsent, wie ich dort im Wartezimmer der Psychiatrie-Praxis saß, dann vor der Ärztin, die zu mir sagte: „Ich nehme sie da jetzt mal 6 Wochen raus.“ Wie ich große Augen bekam und mich einerseits freute (jippie! 6 Wochen frei!!), andererseits aber ein Entsetzen in mir spürte und die große Frage, wer denn jetzt meine Arbeit machen sollte.

6 Wochen, das sollte genügen, um wieder auf die Beine zu kommen, zu Kräften, mit neuer Energie, sodass ich meiner Arbeit wieder würde nachgehen können. So oder so ähnlich musste ich das zu der Ärztin gesagt haben. Ihre Antwort lautete nur: „Denken Sie da jetzt mal nicht dran. Tun Sie in der nächsten Zeit nur, was Ihnen guttut.“

Die Mentoren

Selten hatte ich eine Arztpraxis mit solch einer Verwirrung verlassen. Wie meinte sie das?
Mir selbst etwas Gutes tun?
Was sollte das sein?
Ein gutes Essen? Oh ja! Schokolade. Kann sein, dass ich als Erstes Schokolade kaufte.
Spaziergänge am Wasser. Ja, die taten mir gut.
Aber sonst? Mein innerliches Schulterzucken war riesig.

Die erste Zeit nach der Krankschreibung habe ich nur sehr diffus in Erinnerung. Wie gesagt, ich könnte das Notizbuch befragen, aber ich tue es deshalb nicht, weil ich dir nicht en detail nacherzählen will, was da alles vor sich ging. Ich möchte meine Verfassung rekapitulieren, auch meine Überzeugungen von damals.

Eine davon war, dass ich so bald wie möglich „genesen“ müsse, sprich: mich selbst in Funktionsbereitschaft versetzen. Denn dazu bezahlte die Krankenkasse schließlich mein Krankengeld – nach der zweiten 6-Wochen-Periode, die mich die Psychiaterin krankschrieb. Ich war sehr darauf erpicht, dass es keinen dritten gelben Zettel geben sollte. Doch trotz Medikamenten gab es keine körperliche Besserung. Die Erschöpfung war zu tiefgreifend. Noch dazu tat ich (geistig) viel zu wenig, um mir neue Perspektiven zu entwickeln. Wie auch? Alle, mit denen ich sprach, kannten doch auch nur das Hamsterrad, und zwar das von genau dieser Arbeitsstelle, an der ich „gescheitert“ war. Wir tüftelten Pläne aus, welche Abteilung für mich gut wäre, eine Fachbibliothek möglicherweise, aber nichts wollte machbar erscheinen. Noch dazu hörte ich allerhand Flurfunk, der nach und nach die Erkenntnis in mir reifen ließ, dass ich niemals wieder dorthin zurückkehren könnte.

Mein Glück (neben einem handlungsmächtigen Hausarzt, der auf eigene Initiative für mich sorgte und mich zur Psychiaterin schickte): ich fand recht schnell eine ambulante Psychotherapeutin, bei der ich mich in Behandlung begab. Auf den Klinikplatz musste ich warten und warten und warten (dort konnte ich erst im November hin). Mit der Therapeutin, die – was für ein Zufall (?) – aus der Rhön stammte, fing ich an, meine Denkweise zurechtzurücken. Bei ihr traute ich mich zum ersten Mal, mir anzuschauen, was ICH für mein eigenes Leben wollte. Sie ermutigte mich, auch „spinnerte“ Ideen zu entwickeln, Utopien, Wunschträume.

Träume ersinnen hatte ich schon immer gut gekonnt – als Kind. Als Erwachsene hatte ich mir das abgewöhnt. Was für ein alberner Kinderkram. Dabei half mir diese Fähigkeit während der Zeit des Akzeptierens, dass es mit dem Funktionieren nun zu Ende war, ganz enorm. Es ist ja nicht so, dass ich Übung darin gehabt hätte, von den Steinlawinen meines eigenen Lebens überrollt zu werden und in die Knie gezwungen. Die erste Zeit in Krankschreibung und Therapie verbrachte ich damit, die Tatsache zu akzeptieren, dass meine eigene Lebensweise mich dahin gebracht hatte, wo ich jetzt war. Dass ich meine ganze Identität einzig auf der Arbeit aufgebaut hatte. Nichts anderes hatte in meinem Leben mehr Platz gehabt. Alles, wodurch ich mich definiert hatte, war jetzt aber nur noch ein Haufen Schutt.

Irgendwo aus dem Haufen von Geröll und Staub blitzte die Idee „Schreiben“ hervor wie ein rettender Lichtstrahl.

Hier kam wieder Sarah Kirsch ins Spiel mit ihrer „Regenkatze“. Ja, verdammt. Ich wollte das Leben einer Autorin, einer Künstlerin. Doch wie sollte ich da hinkommen?
Ich fing an, allerhand Szenarien im Kopf durchzuspielen, schrieb darüber. Der Sommer war einer des Plänemachens. So viele Ideen, bei denen mir wiederum meine Kolleginnen-Freundinnen halfen, manchmal mittaten, manchmal auch nur verwundert den Kopf schüttelten, ob ich jetzt wirklich den Verstand verloren hatte. Es fühlte sich tatsächlich manchmal so an. Andererseits: ich war von einer Psychiaterin krankgeschrieben. War das nicht geradezu ein Freibrief zum Spinnen?

Allerhand spann ich da. Auch Fäden aus der Vergangenheit. Mit Hilfe der Psychotherapeutin gelang es mir, einige aufzudröseln, sodass das verzwickte Bild, das ich vor mir selbst hatte, allmählich etwas klarer wurde. Trotzdem fühlte ich mich während dieser Zeit so, als hauste ich unter einer Dunstglocke, hermetisch abgeriegelt, ohne Chance, da jemals herauszukommen. So viel kam da an die Oberfläche, dass ich manchmal nicht wusste, wie ich dessen Herrin werden könnte.

Einer dieser Fäden aus der Vergangenheit war eine vergessene Liebe. Die schaute ich mir an zusammen mit der Therapeutin. Diese Liebe fühlte sich aus der zeitlichen Ferne auf einmal unheimlich gut an. Ich spürte da Geborgenheit, Annahme. In meiner Erinnerung war diese Zeit oder jedenfalls ein Teil davon geprägt gewesen von einem So-Sein-Dürfen. Da hatte es nichts zu Funktionieren gegeben, wenn ich mit diesem Mann allein gewesen war. Da hatte ich ich sein dürfen.

Ich beschloss, mit diesem Menschen Kontakt aufzunehmen. Ich wollte wenigstens wissen, wie es ihm ging. Doch zuerst ging ich 14 Tage segeln in den schwedischen Schären und danach schrieb ich diesem Mann einen Brief.

Teile 6 und 7: Hinein ins kalte Wasser! Wird sie bestehen?

Bewährungsproben

Um es kurz zu machen … die meisten, die mich kennen, wissen es ja sowieso: Der Mann, dem ich da den Brief schrieb, ist heute mein Mann.

Er reagierte (fast) umgehend, nämlich am Wochenende nach Erhalt des Briefes, und ein Wochenende später stand er bei mir in Kiel vor der Tür. Im Gegensatz zu mir – ich hatte ihn über die Jahre rigoros aus meinem Gedächtnis gestrichen – hatte er mir einen Platz in seinem Herzen bewahrt. Und als er da so vor mir stand, abgehetzt und durstig von den 500 km Fahrt, und sein Navi quäkend verkündete: „Sie haben Ihr Ziel erreicht“ (das ist kein Scherz!!), löschten sich in mir 20 Jahre der Trennung in Wohlgefallen auf und alles war wieder da: die Liebe, das Gefühl der Geborgenheit. Was da in meiner Wohnung angekommen war, fühlt sich aus heutiger Sicht an wie ein Stück Heimat, das ich für mich wiedergewann.

Ihn gefunden zu haben plus der Gewissheit, dass es für mich in meinem alten Job nichts mehr zu bewegen gab, was ich hätte vertreten können, machten mir die nächsten Schritte leicht: den Job im öffentlichen Dienst kündigen (kurz vor meinem 25. Dienstjubiläum), ebenso die Wohnung in Kiel und der Umzug nach Hattenbach, zurück in das Dorf meiner Kindheit.

Es war ein Kopfübersprung ins eiskalte Wasser, ein komplett neuer Anfang unter so anderen Vorzeichen, wie ich sie mir nie hätte träumen lassen.

Da war zum Einen die Umstellung vom Stadt- aufs Landleben. Da ich an diesem Ort aufgewachsen war, fiel mir dieser Wechsel sehr leicht. Den Wald hatte ich an der Ostsee ziemlich vermisst, er verschaffte mir gleich ein Gefühl des Aufgehobenseins.

Kalt war das Wasser auch, was das Zusammenleben anging. Ich war es gewöhnt, allein zu leben, und dann wohnte ich auf einmal mit einem Mann, dessen Mutter, ihrem Freund und einer Katze unter einem Dach. Puh! Da war viel Anpassung gefragt – vor allem, weil ich Katzen bis dahin für Teufel in Fellgestalt hielt. (Inzwischen habe ich ein Buch und etliche Artikel über diese Mieze geschrieben!)

Am kältesten jedoch wurde es, was meine berufliche Zukunft anging. Die Dame vom Arbeitsamt drängte mich nach der Krankenzeit direkt in die Selbständigkeit, weil ich als ausgebildete Diplom-Bibliothekarin in unserem Umkreis hier nicht vermittelbar bin. Selbständigkeit war es auch, was mir ohnehin vorschwebte. Denn ich wollte schreiben! Schreiben, schreiben, schreiben! … und lieferte den „besten Antrag auf Gründungszuschuss“, den der Herr vom Gründerzentrum jemals betreut hatte.

Setzen, 1! Funktionierfunktion funktioniert auch nach dem Burnout noch tadellos! (Funktionieren ist ja nicht immer was Schlechtes.)

Was hatte ich für Pläne! Wenn ich mir diesen Antrag heute so anschaue, wird mir schwindelig. Ich erhielt den Gründungszuschuss, was mir 9 Monate weiter ein eigenes Einkommen sicherte. Aber von Plänen allein bekommst du keine Verlagsverträge. Du kommst nicht mal in die Richtung.

Doch ich schrieb und schrieb, mal mehr, mal weniger. Meistens weniger, weil da noch so viel Erschöpfung war in mir, dass ich Wochen brauchte, um mich von den Anstrengungen des Gründerzuschussantrags zu erholen. Es gab Tage, an denen schaffte ich nichts anderes als mein Computerspiel.

Und hatte ein schlechtes Gewissen. Herrje! Da bekam ich Geld und was tat ich? Nichts. Ich war zu nichts fähig, rein körperlich nicht. Noch nicht.

Es dauerte eine ganz lange Zeit mit Phasen von Schreib-Anfällen, in denen halbwegs Taugliches herauskam, doch vom großen Wurf oder gar meinem Ziel eines Verlagsvertrags war ich noch meilenweit entfernt. Ein Trost war es mir, dass ich eine wunderbare Truppe anderer Autoren um mich herum hatte, wo ich Ähnliches sah und also wusste, dass der Weg als Autorin zum Erfolg lang und beschwerlich sein kann. Es sei denn, man heißt Sebastian Fitzek. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Trotz all der Selbstzweifel, was mein Schaffen anging, baute sich aber nach und nach ein Fundament aus Sicherheit in mir auf, die vor allem aus meinem Zusammensein mit meinem Schatz erwuchs. Manchmal blitzte die Erkenntnis schon auf, so als Ahnung, dass ich gut war, auch ohne etwas zu leisten, aber ich war noch nicht so weit, das zu sehen, gar zu begreifen oder für mich anzuerkennen.

Die Sicherheit gab mir unsere Ehe, die wir im Juni 2012 schlossen, sowohl die finanzielle als auch die emotionale. Dieses Bekenntnis zueinander schenkte mir das Fundament, von dem aus ich wachsen durfte. Gute Erde, in die ich meine Wurzeln schlagen konnte und meine Zweige in die Luft strecken auf der Suche nach Licht, wenn es auch noch eine Weile dauern sollte, bis die erste Blüte sich öffnete.

Die große Prüfung

Das war 2013. Da verlegte der Kelter-Verlag meinen ersten Liebesroman, einen in so einem Heftchen, wie man sie im Zeitschriftenregal der Supermärkte oder Kioske findet. „Sturm am Spilchersee“ hieß er.

Immerhin! Diese Verlage stellen genaue Anforderungen und die hatte ich erfüllt. Was war ich stolz über mein erstes eigenes Werk, das verlegt worden war! (Und das „immerhin“ signalisiert ausgezeichnet, für wie gering ich meine eigene Leistung oft noch schätze … Immerhin (!) hat der Kelter-Verlag diesen Roman inzwischen nachgedruckt!)

Zwar hatte ich es auch mit Selbstverlag probiert und ein paar Kröten damit verdient, aber das war so furchtbar anstrengend! Marketing? Werbung? Mir einen Leserkreis aufbauen? Herrje! Das raubte mir Energie. Ich sah meine Zukunft eher als Verlagsautorin.

Und hatte Glück! Nach einer Phase des Herumsuchens, in der ich einen Krimi im Rohentwurf schrieb, den Entwurf verwarf, die Story neu konzipierte (insgesamt 7 mal, glaube ich), kam ein befreundeter Literaturagent auf mich zu und fragte, ob ich nicht Lust hätte, ein Sachbuch zu schreiben. Das Thema reizte mich, ich hatte sofort Ideen, was das Buch enthalten könnte, und so schrieb ich – voller Aufregung und Angst, etwas falsch zu machen – mein erstes Sachbuch für den Wartberg-Verlag: „Echt clever! Geniale Erfindungen aus Hessen“.

Echt genial, das Konzept: ca. 20 Erfindungen waren vorzustellen, lauter spannende Themen, mit denen ich mich aber nie näher befassen musste, sondern nur so intensiv, dass ich angeregt davon erzählen konnte. Perfekt. Diese Art, Bücher zu schreiben, kam mir so sehr entgegen.

Also blieb es nicht bei dem einen. Ich schrieb insgesamt 4 solcher Sachbücher für den Wartberg-Verlag (das jüngste kommt am 1. September heraus und trägt den Titel „Schön & schaurig: Dunkle Geschichten aus Kassel“) und ein Buch für den mvg-Verlag: „Frag deine Katze“.

Die Verlagsverträge folgten aufeinander, ich hatte erreicht, was ich hatte erreichen wollte – bis auf die Tatsache, dass ich keine Romane schrieb, sondern Auftragsarbeiten. Doch das war gar kein Problem. Im Gegenteil. Mich von mir aus an eine Geschichte zu setzen, selbst etwas zu erfinden, das reizte mich gar nicht mehr. Schon bei den Heftromanen war es mir reichlich schwer gefallen, mich zu motivieren, bis zum Ende zu schreiben.

War das doch nicht das Richtige für mich?

Tatsächlich: in den Pausen zwischen den Verlagsverträgen, während ich Zeit genug gehabt hätte, mich anderen Projekten zu widmen, tat ich das nicht. Oder nicht zielgerichtet. Ich wälzte Schreibratgeber, probierte zu plotten, also Geschichten vorher zu strukturieren, damit ich sie nur noch auszufüllen brauchte mit Szenen – was dazu führte, dass mich eben jenes Ausfüllen, also das Ausformulieren der Handlung gähnend langweilte! Ich hatte doch schon den ganzen Roman geplant und wusste, was wann wo wie wem passiert. Wozu jetzt noch schreiben? Drauflosschreiben langweilte mich aber irgendwann genauso.

Was mich dagegen schärfte: mit anderen an ihren Plots zu arbeiten. Eine Freundin bat mich, für eine angehende Autorin einen Roman probezulesen. Wir Autorinnen tun das gelegentlich untereinander. Und sofort fielen mir tausend Sachen ein, wie man den Text dramaturgisch verbessern könnte. Eine Heidenarbeit, die ich bei meinen eigenen Texten umging wie der Teufel das Weihwasser, aber offenbar gelang es mir gut, bei anderen die wunden Punkte zu entdecken und mit ihnen daran zu arbeiten.

Beim ersten Mentoring, das ich in dieser Art machte, entstand die Idee der Kreasphäre. Spontan, aus dem Bauch heraus, antwortete ich ihr auf die Frage, warum ich das alles für sie tue: „Weil ich eines Tages sowieso ein Seminarhaus haben werde, in dem ich nur noch sowas mache. Da kann ich an dir jetzt schon mal üben!“ (Denke dir beim Lesen den Brustton der Überzeugung dazu.)

Die Zweifel an meinem eigenen Schreiben waren riesig in der Zeit. Ich begann, Dan Brown zu studieren, wollte einen Agrar-Thriller nach seinem Erzählschema aufbauen. Wieder erlitt dieses Projekt dasselbe Schicksal: Ich liebe den Plot und wie er aufgebaut ist, das Ausformulieren fand ich entsetzlich und gab es auf.

Dass ich das tat, hatte aber noch einen anderen Grund: Happy Painting!

Im Dezember 2018 schubste mir Facebook eine Werbung in die Timeline, in der es um einen Malkurs ging. Den hatte ich im Sommer schon mal gesehen und mich geweigert, obwohl er mich so verlockend anlächelte. „Nein, das Malen fange ich jetzt nicht wieder an“, sagte ich mir.

Doch alle Verbote mir selbst gegenüber waren machtlos gegen den Impuls, wieder mit Farben und Pinsel zu hantieren, wie ich das in meinem Leben immer getan hatte, bis ich vor meinem Burnout alles an Malsachen verschenkt hatte, was ich besaß. Ich buchte den Kurs – und der Rest ist schnell erzählt. Von diesem Tag an legte ich den Pinsel kaum mehr nieder.

Was dazu führte, dass ich beim vorletzten Buchprojekt schon das Grummeln im Bauch hatte, lieber malen als schreiben zu wollen. Tat ich noch mein Bestes für dieses Buch, zu dem ich mich verpflichtet hatte? Oder wollte ich meine Zeit lieber mit anderen Dingen verbringen? Mit dem Malen? Nur noch malen? Nicht mehr schreiben? Verschwendete ich meine Zeit?

Was sollte denn jetzt werden aus meinem Traum, als Autorin zu leben, wie ich das bei Sarah Kirsch gelesen hatte, wenn ich keine Lust mehr hatte zu schreiben? Durfte ich es wagen, etwas aufzugeben, das doch mein Lebenstraum war, noch dazu jetzt, wo ich alles hatte, um ihn wirklich. zu leben? Sogar einen Vertrag mit einem Literaturagenten?

Teile 8, 9 und 10: Phönix-Erfahrungen

Die Belohnung

Die Erkenntnis, dass mich das Erfinden von Geschichten nicht befriedigte, dass es mich im Gegenteil stresste, manchmal sogar langweilte, traf mich tief. Ich starb den symbolischen Tod.

Im Film sind das die Stellen, an denen der Held eine Entscheidung treffen muss, will er oder sie nicht im tiefen Loch des Selbstmitleids versinken. Und Selbstmitleid, das war etwas, das ich mir seit der Zeit, da ich ernsthaftes Achtsamkeitstraining, Yoga, Meditation für mich entdeckt hatte, strikt verbot. Selbstmitleid ist so ein blödes Ego-Ding, das zu nichts führt. Da gebärdet sich der Verstand wie ein kleines Kind im „mimimi“-Modus, fährt lauter Willaber und Warumpassiertmirdas auf, nur um die Energie zu binden, die fürs Weitergehen notwendig wäre. (Wenn du darüber ganz viel lernen möchtest, schau doch mal bei Laura Seiler vorbei!)

Haben die Ghostbusters an ihren alten Methoden festgehalten, als sie gemerkt haben, dass sie Goza, dem Zerstörer, so nicht beikommen würden? Hat Ant-Man mit den Schultern gezuckt und hat die Fühler eingezogen, als es darum ging, die Ehefrau seines „Erbauers“ aus dem subatomaren Raum zu befreien?

Nein! Sie haben vielleicht gezögert. Aber dann hieß es: „Kreuzt die Ströme!“ und Ant-Man hat den Regler seines Verkleinerungsanzugs bis zum Anschlag weitergedreht.

Das, was die Herrschaften Helden da gemacht haben, war jeweils ein Wechsel der Perspektive, ihrer Sicht auf die Welt. Wenn die alten Methoden nicht mehr greifen, müssen eben neue her, um das Ziel letztlich zu erreichen.

Nur, dass mein Ziel ja gewesen war, eine gefeierte Romanautorin zu werden, die scharenweise Menschen in ihre Lesungen lockt *lach
Naja, ganz so auch nicht. Mir war schon eine Weile klar, dass es mich nicht glücklich machen würde, Roman für Roman mit denselben Figuren abzuliefern, eine Krimiserie eben, wie die Leserschaft die so gern hat. Was habe ich Elizabeth George bewundert, deren Inspector Lynley-Romane von Mal zu Mal dicker wurden. Oder Val McDermid mit ihrem fantastischen Ermittlerteam Carol Jordan und Tony Hill.

Wie sollte ich nach der niederschmetternden Erkenntnis, dass Romaneschreiben doch nicht meine Erfüllung sein würde, einen neuen Blickwinkeln entwickeln? Ich hatte zu akzeptieren, dass es mir keinen Spaß machte, Geschichten auszudenken, die so oder so ähnlich schon tausendfach erzählt worden waren. Oder einen dieser hunderttausend Taschenbuch-Romane zu fabrizieren, der nach einem halben Jahr auf dem Ramsch-Tisch landeten. Was für eine Ressourcenverschwendung! Noch dazu bekam ich das Gefühl, ich verschwendete meine Zeit.

In dieser Zeit hatte das Malen mich schon so sehr gepackt, dass ich mich immer intensiver damit beschäftigte. Ich fing an, Kurse zu geben im März 2019 und entdeckte dabei, wie großartig es ist, den kreativen Funken in anderen entfachen zu dürfen. Kommentare wie „du hast mich inspiriert, wieder die Farben herauszuholen“ ließen mich schweben. Neue Freundschaften entstanden, blieben, entwickelten sich weiter. (Danke, Silke!!!)

Mixed Media trat in mein Leben und warf alles über den Haufen, was ich übers Malen je geglaubt hatte. Dass man bestimmte Techniken beherrschen müsse. Dass Porträtmalen schwierig wäre – für mich sogar ganz und gar unmöglich zu lernen. Dass ich niemals eine Katze würde malen können oder ein Bild von wandfüllendem Format.

Was ich nicht alles geglaubt hatte, als ich noch glaubte, ich könnte nicht malen.

Das, was ich für mich schon einmal ausprobiert hatte, als ich vor ein paar Jahren mit den Müllcollagen angefangen hatte, bekam nun einen Namen: Mixed Media/Art Journaling. Was für ein Aha-Erlebnis! Und was für ein Treibstoff unter all die Experimentierfreude und Neugier in mir! Ich hatte das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bei mir zuhause – zuerst in ungezählten Kartons vom Künstlerbedarfs-Dealer meines Vertrauens, dann in den Regalen und Schränken meines wunderbaren Ateliers. (Danke, Schatz!!!)

Bis ich merkte, wie sehr es mich ausfüllte, dieses Malen und Kleben und Darübermalen … und später das Porträtmalen. Das erste Mixed Media-Malabenteuer in meinem Atelier war eine Art Erleuchtung! Solch eine Energie, die da entstand zwischen uns dreien, die wir da malten. Das schaffte eine Verbindung fürs Leben!

Der erste Mixed Media-Kurs im November 2019 war noch so eine Erleuchtung. Was hatten wir für einen Spaß. Und ich brauchte nicht mal groß etwas vorzubereiten. Ich brauchte nur das Material und das Vertrauen in all das, was schon in mir war. Nichts zu erzeugen. Nichts zu erzwingen. Nur Vertrauen. Auf einmal war es da.

Der Rückweg

Im Flow zu sein, im Fluss der Zeit, des Malens, der Farben, dem Geschehen auf Papier und Leinwand, und lernen, lernen, lernen – das verschaffte mir ungeahnt viel Freude. Die wollte ich weitergeben.

Und so schnell wie möglich das Buch zu Ende schreiben, das ich dem Wartberg-Verlag noch zugesagt hatte: „Dunkle Geschichten aus Kassel“ in der Reihe „Schön & schaurig“.

Doch mitten hinein in die Recherche zu dem Buch und die Überlegung, wie ich nächste Kurse in mein Atelier bringen wollte, starb ich einen weiteren symbolischen Tod (zum Glück nur symbolisch, für andere ging das übler aus): Das große C machte sich breit und zwang mich, mein Atelier zu schließen.

Was nun?
Das Buch recherchierte ich von zuhause aus ohne Interviews und Vor-Ort-Recherche. Es wurde anders als geplant, aber es wurde trotzdem gut.

Viel wichtiger war aber eine Entscheidung, die ich davon ausgelöst traf: wenn ich schon nicht im Atelier würde malen können mit anderen Menschen, würde ich mein Atelier in die Online-Welt bringen. Schließlich liebte ich es selbst, diese Online-Kurse zu buchen und zu absolvieren. Die Online-Malschulen von Kara Bullock, Jeanne Oliver und vor allem Laly Mille waren sämtlich auf Englisch. Wo waren adäquate Angebote im deutschsprachigen Raum?

Die gab es nicht und so beschloss ich, dies zu ändern. Pünktlich vor dem Lockdown erwarb ich meine Systemkamera für das Filmen der Videos. Den neuen Computer für die Videobearbeitung bestellte ich bei amazon (Asche auf mein Haupt, aber manchmal bin ich froh, dass es diese Möglichkeit gibt). Schritt für Schritt und immer nur den nächsten Schritt vor Augen wagte ich mich diesen Berg hinauf: Online-Kurse anbieten.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Ich wusste nur, es wird gut.

Ein Berg war es, der da vor mir lag. Und ich bestieg ihn, einen Schritt nach dem anderen. Ich drehte ein erstes Video, fügte es in die Videobearbeitung ein, schaltete eine Titelseite davor.
Fertig, hochgeladen, etwas gelernt, notiert, was ich gelernt hatte.
Nächstes Video. Das Equipment passte noch nicht, ein Mikro für die Kamera musste her. Ab in den Schneideraum, Musik drunter, hochladen auf den YouTube-Kanal, Lernfortschritte dokumentieren.

Schritt für Schritt für Schritt tastete ich mich voran. Die Ergebnisse siehst du als „Glückskicks“ auf meinem YouTube-Kanal.

Um ein Haar hätte ich gar nicht erst damit angefangen. Um ein Haar hätte ich mich von dem Gedanken abhalten lassen: Das schaffst du nie! Dieser Berg ist viel zu hoch!
Doch zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits (dank Elizabeth Gilbert und Michael Neill), dass dies nur meine Angst war, die mich vor etwas bewahren wollte; vor einem Misserfolg – oder dem ganz großen Erfolg.

Deshalb filmte ich weiter. Und weil das so so so viel Spaß macht, traf ich noch eine Entscheidung: Die „Dunklen Geschichten aus Kassel“ würden mein letztes Sachbuch für Wartberg sein, obwohl ich schon ein nächstes Projekt fast zugesagt hatte. Die drei Monate, die ich für die Recherche brauchte, würden mir schmerzlich fehlen beim Aufbau der Online-Malschule, die mir vorschwebt.

Nach dieser Entscheidung fiel mir eine Last von den Schultern. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass diese Art des Schreibens für mich zuletzt zu einer Last geworden war.

Die Auferstehung

„Wege entstehen im Gehen“, heißt es in einem Lied von Heinz-Rudolf Kunze. Dem großen C sei Dank eröffnete sich mir eine vollkommen neue und fremde Welt, in die ich bisher nur als bewundernde Besucherin eingetaucht war. Wie konnte es nur gelingen, solch bezaubernde Kursvideos zu drehen (wie Laly Mille)? Wie gebärdete man sich so köstlich authentisch vor einer Videokamera (wie Emma Petitt)?

Mit jedem Kurs wurden meine Augen größer, füllte sich aber auch mein Erfahrungsschatz, bildeten sich Lieblingstechniken heraus, wurde für mich klarer, wohin mein Weg mich trug.

Mein Weg entstand im Gehen, und wenn ich auch nur geahnt hätte, wie viel Freude es macht, Videos zu drehen und diese Filme zu schneiden, die passende Musik dafür auszusuchen und dann selbst vor dem laufenden Video zu sitzen und über das eigene Schaffen zu staunen, ja sogar selbst vor die Kamera zu treten und live auf Facebook oder Instagram über mein Tun zu sprechen und andere zum Kreativsein zu verleiten, ich hätte viel viel früher …

Aber nein, hätte ich nicht.
Denn wir können jeden Schritt in unserem Leben erst dann gehen, wenn er dran ist. Wir sehen Möglichkeiten erst dann, wenn wir bereit dafür sind. Das Geheimnis ist es, und das wird mir erst jetzt dank der großartigen Christina Schmautz bewusst, empfänglich zu sein für all diese Möglichkeiten, offenen Herzens durch die Welt zu gehen und die Chancen wahrzunehmen.

Dann kann es nämlich auch geschehen, dass in der C-Zeit eine Person auf einen zukommt, die man nur virtuell kennt, und einen bei all dem Verdienstausfall total großherzig sponsort, was es mir ermöglicht hat, einen Profi zu beauftragen, der mir die Webseite für die Malschule herrichtet – mit Kursverwaltung, Mitgliederbereich und allem pipapo, und meine liebste Freundin Karen Kieback, dir mir ein wunderbares Logo gezaubert hat.
Dann kann es geschehen, dass Menschen und Situationen in dein Leben kommen, die genau das unterstützen, was du vorhast.

Das muss nicht immer gleich geschehen. Manchmal dauern die Dinge etwas länger, bis sie sich fügen. Manchmal braucht man eine gehörige Portion Geduld, bis der Knoten aufgeht, der „Durchbruch“ da ist, bis sich die ganze Mühe auszahlt. Bis dahin mache ich weiter das, was mir am meisten Spaß macht, was mir leicht fällt, woraus ich Entzücken und Erfüllung ziehe.

Meine Erzählung über mich endet zwar hier, aber mein Weg geht weiter. Wohin er führen wird, das weiß ich nicht. Das Leben ist ein Kreislauf, von der Geburt bis zum Tod. Wer weiß, eines Tages ist die Online-Malschule mein gewohntes Leben, das so nicht mehr funktioniert. Und dann wird es neue Rufe geben zu neuen Abenteuern, wenn ich offen bleibe und empfänglich für Chancen. Ich werde neue Bewährungsproben bestehen müssen, werde neue Mentoren treffen (danke euch allen!!) und neue symbolische Tode sterben, noch mehrmals meine Sichtweise wechseln, bis mein Leben erfüllt ist.

Aber weißt du was?
Das ist gut so. Das muss so sein. Das ist das Leben! Das ist mein Leben. Mein. Leben.

Danke, dass du mir bis hierhin gefolgt bist. Danke, dass du mich begleitet hast, mich unterstützt, dicht an meiner Seite oder ganz weit weg. Danke.

Und danke, dass du jetzt hier bist, auf dieser Seite. Danke, dass es dich gibt.