Grenzen

Unsere Möglichkeiten sind begrenzt – von dem, was wir für möglich halten. (Ernst Ferstl)
Mein Schatz sieht ab und zu gern Western. Jetzt, an Ostern, lief “Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe.” Darin kommt ein Gefängnis vor, nigelnagelneu, bloß fehlen die Gitter. Doch der neue Sheriff weiß sich zu helfen. Er zieht auf dem Boden eine Linie: bis hierhin und nicht weiter, sagt er dem Delinquenten, und wenn er doch auf die Idee käme, die Linie zu übertreten, finge er sich eine Kugel.
Was für ein Quatsch, magst du denken, eine Linie auf dem Fußboden hält doch niemanden auf.
Dann will ich dir noch eine Geschichte erzählen. In meinen Malkursen fangen wir ein Bild manchmal mit einer Vorzeichnung an, einem unperfekten Kreis für den Körper eines Vogels zum Beispiel. Und wenn wir danach mit Aquarellfarben ans Ausmalen gehen, höre ich manchmal die Frage: darf ich über den Rand malen?

Natürlich darfst du!

Ausdrücklich sogar, antworte ich dann.

Wenn wir also Linien auf dem Boden als Gefängnistür respektieren (ob im Film oder im Leben) und wir glauben, um Erlaubnis bitten zu müssen, eine selbstgezeichnete Bleistiftlinie übermalen zu dürfen, wie sieht es dann mit anderen Begrenzungen in unserem Leben aus? Welche akzeptieren wir außerdem noch, ohne darüber nachzudenken, ohne zu hinterfragen, ja, ohne sie überhaupt als Grenzen wahrzunehmen?

Hält dich das Sprichwort “Grün und Blau trägt die Sau” davon ab, diese beiden Farben in deinem Outfit zu kombinieren?

Verzichtest du auf einen Rucksacktrip nach Südamerika, weil diese Auszeit eine “Lücke” in deinen Lebenslauf reißen würde?

Malst du schön brav ein Kästchen nach dem anderen in deinem Erwachsenenmalbuch aus?

Führst du die Firma deines Vaters wei­ter, obwohl du dich überhaupt nicht für Heizungen interessierst?

Gehst du weiter deinem zermürbenden Fließbandjob nach, um die Unterhaltungskosten für dein Haus bezahlen zu können, obwohl du viel lieber Zitronenpflücker auf der sorrentinischen Halbinsel wärst?

Wo sind deine Grenzen?

Wovon lässt du dich be-grenzen?

Was ist dein Lebenstraum und was hält dich bisher davon ab, ihn zu verwirk­lichen?

Schau mal hin in der nächsten Zeit, werde dir bewusst, wo du dich fügst, obwohl dir dein Bauchgefühl etwas ganz anderes sagt, in welchen Fällen sich das Fügen mies anfühlt, das Einlenken, das Befolgen von Regeln dir wehtut, regelrecht körperliche Schmerzen zufügt – und setze dich ruhig ab und zu einmal über diese Grenzen hinweg, vor allem dann, wenn es Regeln sind, die du dir selbst gesetzt hast. Das können ganz einfache Dinge sein wie “ich esse keine Oliven”. Probier doch mal eine. Vielleicht schmecken sie dir ja doch. Oder: “ich rede nie mit Fremden”. Versuch’s doch mal. Vielleicht begegnest du ja einem besonders in­teressanten Menschen.

Manche Regeln, auch wenn völlig wildfremde Menschen sie aufgestellt haben, sind durchaus sinnvoll zu beherzigen. An roten Ampeln solltest du weiterhin halten. Aber lass nicht zu, dass der Bleistiftstrich auf deinem eigenen Malpapier dich von dem Bild abhält, das eigentlich von dir gemalt werden will. Mal über den Rand, schlag Lücken in deinen Lebenslauf, nimm dir all die Freiheit, die du für dein eigenes Glück brauchst. Du hast nur dieses eine Leben, und das ist viel zu kurz, um auf all das zu verzichten, was jenseits deiner eigenen Grenzen liegt.

Lass dein Licht leuchten in die Welt.

Deine Andrea!